Reiseland Vietnam
Vietnam gehört noch lange nicht zu den klassischen Reiseländern in Südostasien. Es gibt kaum ein Land, von dem man so viel gehört hat, aber dennoch noch so wenig weiß. Ganz im Osten der südostasiatischen Halbinsel gelegen, entzieht es sich fast schon durch seine Isolation der letzten Jahre den Blicken von Touristen. Seit 1995, als das Embargo der USA fiel, haben sich immer mehr Menschen dieses Land besucht. Um es vorweg zu nehmen: Es ist kein leicht zu bereisendes Land. Die Vietnamesen sind auch heute, fast fünfzehn Jahre nach der Öffnung ihres Landes, immer noch nicht so ganz an Ausländer gewöhnt. Man braucht aber nun keine Angst zu haben, sie werden alle gastfreundschaftlich empfangen. Aber man bestaunt doch den Tay (den Ausländer), der aus nicht nachvollziehbaren Gründen zu ihnen kommt, um sich Landschaften und Städte, alte Pagoden und das normale Leben, den Alltag der Vietnamesen, anzuschauen. Gibt es das nicht auch in Europa? Vietnamesen nehmen an, dass jeder Europäer, der ins Land kommt, unermesslich reich ist und unglaubliche Kontakte hat (früher ging man davon aus, dass jeder Ausländer persönliche Kontakte zum US-Präsidenten hat!). Daran werden wir Tay gemessen! Und deswegen ist es auch nicht leicht, durch dieses Land zu reisen, denn man erweckt überall Aufmerksamkeit. Vielleicht legt sich dies in ein paar Jahren, aber man muss bedenken, dass für viele Vietnamesen auch eine Reise im eigenen Land noch mehr als unerschwinglich ist.
Vietnam bietet sich nun als Reiseland bestens an: Die Geografie – lang und schlank gestreckt – sowie die Verteilung der Sehenswürdigkeiten in den drei Großregionen dieses Landes machen es relativ einfach. Entweder man beginnt im Norden und fährt gen Süden, oder einfach umgekehrt! Man kann auf diese Weise fast alle „Muss-man-gesehen-Haben“-Sehenswürdigkeiten besuchen. Da nach Ho Chi Minh-City, dem ehemaligen Saigon, mehr Flüge zu bekommen sind als nach Hanoi, beginnen die meisten im Süden.
Südvietnam mit der ehemaligen Hauptstadt Saigon ist ganz anders als der Norden. Die Menschen hier sind aufgeschlossen und lebensfroh, sehr geschäftstüchtig und freuen sich immer über Ausländer. Die Stadt hat ein wunderbares Flair und dient als Ausgangspunkt für Rundreisen, sei es, um nach Kambodscha weiterzufahren, oder ins Mekong-Delta, oder einfach die Umgebung dieser Stadt zu erkunden. Saigon ist eine pulsierende Stadt, die Menschen sind aktiv bis in die Nacht und stehen schon wieder um kurz nach vier auf. Man fragt sich oft, ob sie überhaupt jemals schlafen. Die Straßen sind immer voll. Wenn man die Energie dieser Menschen auf den Straßen spürt, kann man nachvollziehen, warum dieses Land seit Jahren über zweistellige Wirtschaftswachstumsraten verfügt.
Ho Chi Minh und seine Umgebung bietet wunderschöne Landschaften, den Mekong und den Zugang zum Meer. Von hier aus kann man mit dem Flugzeug in den Norden fliegen oder aber auch mit dem Zug weiterreisen. Letzteres ist ein wahres Abenteuer! Ich finde, man lernt nie ein Land richtig kennen, wenn man es nicht mit dem Zug bereist hat. Leider ist das vietnamesische Zugnetz nicht besonders ausgebaut. In den Norden führt nur eine einspurige Bahntrasse, so dass es sehr lange dauert bis man am Ziel ist. Aber das macht die Reise so spannend. Man kann unterwegs an den bekannten Zielen aussteigen: Dem Badeort Mui Ne oder Nha Trang mit den alten Tempeln. Die meisten reisen aber nach Mittelvietnam weiter, das eindeutig von drei großen Weltkulturerbestätten dominiert wird: Hue, My Son und Hoi An. In letzterer kann man die alte vietnamesische Architektur noch erleben, es ist, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. My Son ist das vormoderne Vietnam, die Zeit der alten Cham, die vor den Vietnamesen hier gelebt haben, während Hue als ehemalige Kaiserstadt auch heute noch Würde ausstrahlt. Man könnte hier Wochen verbringen, aber die meisten Touristen haben leider nicht so viel Zeit. Wunderbar ist eine Fahrt von Hoi An nach Hue über den weltberühmten Wolkenpass, die engste Stelle zwischen Nord- und Süd. Mittelvietnam hat einen eigenen Charakter, mehr südlich geprägt, aber dennoch ein wenig provinziell. Die Menschen hier leben noch sehr bodenständig, sind nicht von den großen Städten Saigon oder Hanoi abhängig und sind erst seit kurzem überhaupt ausländische Gäste gewöhnt. Man sollte auch bedenken, dass diese Region während des Vietnamkriegs am meisten gelitten hat.
Von Hue oder auch von Da Nang reisen die meisten Touristen in den Norden. Am besten per Flugzeug, aber auch hier ist die Reise mit dem Zug möglich. Der Norden erscheint ein wenig kühl, die Menschen hier sind ernster. Aber dieser Eindruck täuscht natürlich. Auch die Menschen im Norden heißen Gäste mehr als willkommen, man wird kaum Probleme haben (es sei denn mit dem schlechten Englisch). Hier im Norden liegt die Keimzelle des alten Vietnams. Hier schufen die ersten Kaiser das unabhängige Reich von Dai Viet, aber auch die Vorgeschichte zeigt anhand großer Fundstellen, dass die Ebene des Roten Flusses seit langer Zeit besiedelt wurde. Hanoi ist Ausgangspunkt vieler Reisen. Der Norden besticht nicht nur durch seine Geschichte, sondern auch durch seine Landschaften. Die Halong-Bucht ist eine Tagesreise von Hanoi entfernt und bietet alles, was man an Exotik in diesem Land erwarten kann. Eine traumhafte Landschaft mit Karstgebirgen unter Wasser, malerisch gelegene Buchten, die von Dschunken angesteuert werden (auch wenn diese leider nicht mehr wirklich fahren) und netten, aufgeschlossenen Menschen. Man sollte sich für diese Bucht mindestens zwei Tage Zeit nehmen. Nicht weit entfernt, südlich von Hanoi, existiert die Trockene Halongbucht, die ähnlich der oben beschriebenen ist, nur dass sie an Land liegt. Hier erheben sich die Karstkegel aus den Reisfeldern. Oder man fährt von Hanoi in die Berge, nach Lao Cai und Sa Pa. Hier leben ethnische Minderheiten wie die Tay und Hmong. In hoch angelegten Reisfeldern kann man hier tage- ja sogar wochenland wandern. Vietnam bezaubert heute noch durch seine Verschlossenheit.
Vietnam befindet sich aber auch im Umbruch. Mehr und mehr Touristen werden dieses Land besuchen. Seiner Schönheit und seinen Landschaften wird dies kaum etwas anhaben können, aber die Menschen werden sich verändern. Ihr Leben hat sich schon in den letzten zehn Jahren stark verändert, sehr zum positiven, aber man gibt auch Traditionen auf. Die Vietnamesen haben Angst vor dem Verlust ihrer Identität. Dieses Land ist gerade im Wandel, in einer Zeit des Umbruchs. Das alte Vietnam wird es in einigen Jahren nicht mehr geben. Ich finde es faszinierend, gerade zu diesem Zeitpunkt hier zu sein, um beides – das Alte wie das Neue – mitzuerleben.